Warum
wird Rumpelstilzchen so verteufelt?
Für
einen Dämon hält ihn alle Welt, der im Sinn nichts
anderes hat, als der Müllerstochter Kind zu rauben. Nixda!
Rumpelstilzchen spinnt und spinnt dem verraten und verkauften
Ding eine ganze Kammer Stroh zu Gold, und zum Lohn begnügt
es sich mit einem Goldkettchen oder einem goldenen Ring? Wer
hat das Mädchen denn in diese Lage gebracht! Und dann
ist dieses »gar zu lächerliche Männchen«
(Originalton Mann) auch noch bereit, den bestehenden Vertrag
zu seinem eigenen Nachteil abzuändern. Also, Jungfer
Müllerin, wie lautet denn nun Rumpelstilzchens wahrer
Name? Etwas Lebendes sei ihm lieber, sagt es, als alle Schätze
dieser Welt.
Das Geheimnis
Rumpelstilzchen hat ein Geheimnis.
Und die Müllerstochter entdeckt es. Vordergründig
ist es der Name, der zu finden ist, doch das ist nicht das
eigentliche Geheimnis. Rumpelstilzchen hat einer (jungen)
Frau mehr zu bieten als seinen putzigen Namen.
Doch der Reihe nach. In diesem kleinen Psychodrama treten
fünf Personen auf, vier Männer, aber nur eine Frau.
Das gibt zu denken. Augenscheinlich steht diese Frau, dieses
Mädchen, die Müllerstochter, ziemlich allein und
verlassen da in einer Männerwelt. Warum? Nun, schauen
wir uns die Herren doch einmal an.
Der Müller
Da haben wir zunächst den Herrn
Müller. Er betritt als erster die Bühne. Wieso ein
Müller?
Müller waren nicht besonders angesehen, aber gewöhnlich
reich. Schließlich gehören sie zu den frühesten
Kapitalisten. Sie besitzen ein Produktionsmittel, von dem
Bauern wie Bäcker abhängig sind.
Die Mühle stand gewöhnlich außerhalb des Dorfs,
auf freiem Feld, dort, wo der Wind gut in die Flügel
greifen konnte, oder an einem Flusslauf. Diese abgeschiedene
Lage machte sie als heimlichen Treffpunkt beliebt, für
Liebespaare wie für dunkle Gestalten. Und nicht selten
hatte der Müller seine Finger im Spiel, machte gute Geschäfte
mit dem sexuellen Teil der Liebe oder bot jenen Unterschlupf
und Beihilfe, die das Tageslicht scheuten.
Ein Nachtlokal am Boulevard de Clichy in Paris, es wurde 1889
eröffnet, erinnert mit seinem Namen an die zwielichtigen
Zusammenhänge: rote Mühle (Moulin-Rouge).
Es soll hier aber nicht behauptet werden, alle Müller
hätten mit der Halbwelt in Kontakt gestanden. Doch reich
waren sie gewöhnlich so oder so. Unser Müllersmann
hier aber ist arm. Ein Mann ohne Ansehen und ohne Reichtum.
Ein Versager. Wir können ihn vor unserem geistigen Auge
ansehen. Die Kleidung geflickt und voller Mehlstaub. An den
Füßen klobige Holzschuhe. Auf dem Kopf ein schäbiges
Stoffmützchen mit einer Bommel daran. Die Haltung gebückt
vom Schleppen der Säcke. Das Gesicht grau, doch die Nase
rot, denn gegen den trockenen Staub trinkt er zu gern einen
Humpen Bier zu viel.
Dieser Mann hat kein Ansehen im Dorf. Vermutlich ist er dumm
und ungeschickt. Er stellt nichts dar und hat im Leben nichts
erreicht. Das Märchen sagt einfach nur, er sei arm, doch
das meint arm sowohl an Gut wie auch an Geist.
Doch halt! Eine schöne Tochter hatte er wohl. Blitzt
nicht sofort das Bild von Legionen von Vätern auf, die
"eine schöne Tochter" haben? Männer, über
die das Leben hinweggeht, weil sie kleine, austauschbare Rädchen
in einer gigantischen Produktionsmaschine sind, denen das
Schicksal aber eine Tochter als Baby in die Arme gelegt hat.
Eine Tochter! Was wird da nicht alles im Vatermann gekitzelt.
Jetzt ist er etwas. Jetzt ist er ein Mann. Denn er hat eine
schöne Tochter. Er liebt sie abgöttisch, diese schöne
Tochter. Er tut alles für sie, so denkt er, so scheint
es. Sie ist sein Ein und sein Alles. Und einfach alles muss
sie ihm sein. Fast vergisst man zu fragen, ob dieser Mann
mit der schönen Tochter denn gar keine Frau hat. Es muss
doch eine Mutter geben, von der die schöne Tochter zur
Welt gebracht wurde. Wie sieht die aus? Wo steckt sie? Was
tut sie? Der Vater der schönen Tochter verliert kein
Wort darüber und das Märchen tut es auch nicht.
Die Frau, die Mutter des Mädchens zählt nicht. Alles
was zählt, ist nur die schöne Tochter allein, seine
eigene schöne Tochter.
Das ganze Leben dieses armen Mannes dreht sich nur um seine
schöne Tochter, weil es in diesem seinem Leben nichts
anderes gibt, um das es sich sonst drehen könnte. Und
die Tochter muss auch gar nichts weiter tun, als diese schöne
Tochter zu sein, ob sie nun will oder nicht. Seht nur alle
her, hier ist meine schöne Tochter. Er ist so stolz,
als hätte er sie eigenhändig aus Elfenbein geschnitzt.
Und nun erfährt dieser arme Müllersmann mit der
schönen Tochter die Chance seines Lebens. Er begegnet
dem König, kann gar zu ihm sprechen. Doch was hat er
schon zu sagen? Was ist der Aufmerksamkeit des Königs
wert? Womit soll er dem Herrn König imponieren? Womit
kann er sich ein Ansehen verschaffen? Freilich. Mit seiner
Tochter. Doch vor einem König genügt es nicht, dass
sie schön ist. Schöne Töchter hat das Land
viele. Und für einen Mann wie den König, ist Schönheit
ohnehin einfach alltäglich.
Doch unser Müllerlein weiß wohl Rat, sich vermittels
seiner Tochter dem Herrn König gegenüber auf rechte
Weise zu positionieren. Spricht: "Eine Tochter habe ich,
eure Durchlaucht, Stroh kann die zu Gold verspinnen."
So einem König gefällt das natürlich. Ach,
dieser Müllersmann! In völliger Verblendung und
auf Anerkennung geil stößt er seine eigene schöne
Tochter ins Unglück. Die Tochter, die so sehr zu lieben
er doch aller Welt vorschwärmt. Doch was er da tut, merkt
er ja gar nicht. Er ist der kleine Mann ganz groß. In
völliger Selbstüberschätzung, verliert er jegliches
Maß. Der Müller ist auf dem Gipfel seiner eingebildeten
Karriere.
Das dargebotene Röslein bricht der König gern, um
es sich ans Revers zu stecken: "Wenn deine Tochter so
geschickt ist, wie du sagst, so bring sie morgen in mein Schloss,
da will ich sie auf die Probe stellen."
Das Spiel ist aus. Der Müller hat den großen Auftritt
seines Lebens gehabt. Jetzt ist er seine schöne Tochter
los, für immer. Dass er sich fortan brüsten kann,
sein eigen Fleisch und Blut sei des Königs Frau, wird
ihm auch nur mitleidiges Lächeln seiner Nachbarn eintragen.
Wir erfahren es nicht. Der Müller verschwindet in der
Versenkung und das Märchen lässt ihn auch nicht
wieder aufsteigen.
Der König
Ein feiner Herr. Ei, ja? Er steigt
von seinem Schloss herab und begibt sich unter sein Volk.
Der arme Müller darf gar zu ihm sprechen. Doch von seinem
hohen Ross steigt der Herr König nicht herab. Der einfältige
Müllersmann brüstet sich seiner Tochter. Doch was
interessiert das schon einen König. Stroh zu Gold verspinnen
soll sie können. Ja, das ist wohl eine Kunst, die ihm
gefällt...
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