Felix von Bonin: Die zwölf Brüder
Band 12
Felix von Bonin
Die zwölf Brüder
Zerrüttete Ehe
Was Kinder tragen müssen
  
96 Seiten
978-3-88755-242-8

EUR [D] 8,30

Schuldbeladen

Ein Mann, Vater von 12 Söhnen, eröffnet seiner schwangeren Frau, die Söhne sollen sterben, wenn sie eine Tochter zur Welt bringt. Warum tut er das? Die Söhne fliehen vor dem bedrohlichen Vater und die Tochter wächst schuldbeladen auf. Was wird aus diesen Kindern? »Die zwölf Brüder« zeigt einen Weg aus der verhängnisvollen Verstrickung von Schuld und Sühne. Es zeigt, was Kinder einer zerrütteten Ehe tragen müssen, es zeigt aber auch, dass Erlösung möglich ist, wenn wir den langen Weg zu uns selbst gehen. Wie finde ich Erlösung von zugewiesener Schuld?

Der mörderische Vater

Was spielt sich in einem Menschen ab? Wir wissen es nicht, nicht wirklich. Angst, Hass, Verzweiflung, wie erlebt sie ein anderer Mensch? Wenn wir aufrichtig mit uns selbst sind, können wir über das bloße Erleiden hinaus bis zu einem gewissen Grad erkennen, was sich bei diesen Gefühlen in uns selbst abspielt. Und daraus können wir dann ahnungsweise nachvollziehen, was sich in anderen wohl abspielen wird. Doch genau wissen werden wir es nie. Selbst die Gefühle von Menschen, die uns sehr nahe stehen, können wir nur erahnen. Was hat unsere Mutter, was hat unser Vater wirklich gefühlt? Letztlich bleiben sie uns fremd. Letztlich ist ein jeder in seiner fleischlichen Hülle gefangen ganz allein.
Was geht in einem Mann vor, der zu seiner schwangeren Frau spricht, er werde alle ihre Kinder, zwölf Jungen, umbringen, wenn sie als dreizehntes ein Mädchen zur Welt bringt? Der König in diesem Märchen tut genau das. Warum? Was geht in ihm vor? Können wir es erahnen? "Die zwölf Brüder" nennt uns einen Grund...

Ins Leben gestoßen

Was kommt auf die Kinder dieses Mannes zu? Die Mutter kann sie vor ihrem gewalttätigen Vater nicht schützen, also bleibt ihnen nur zu fliehen.
Auch an dieser Szene ist bemerkenswert, wie sie Wilhelm Grimm systematisch publikumsgerecht verkitscht hat. Die Mutter sitzt den ganzen Tag herum und trauert. Wir würden sagen, sie ist deprimiert, und wenn es ein Hollywood-Film wäre, würde sie vielleicht auch trinken. Der jüngste Sohn, "den sie nach der Bibel Benjamin nannte", ist immer mit ihr zusammen und fragt sie, warum sie so traurig sei. Sie druckst herum, "ich darf dir's nicht sagen", zeigt ihm aber schließlich doch die zwölf Särge in der verschlossenen Kammer und enthüllt ausgerechnet ihm, dem Jüngsten, die dunkle Absicht seines Vaters. Sie weint, aber der ›tapfere kleine Kerl‹ tröstet sie. Da schmilzt doch jedes Mutterherz dahin. Das kleine Kind schlägt vor, dass sie, die Brüder, fortgehen sollen, und die Mutter stimmt ihm zu.
In der Erstausgabe hat der Jüngste keinen Namen, wie es bei Märchen auch die Regel ist. Die Mutter hat ihn am liebsten, weiht ihn von sich aus ein und trägt ihm auf, zusammen mit seinen Brüdern fort in den Wald zu gehen. In der ursprünglichen Handschrift heißt es: "Da wurde die Königin gar traurig und hatte ihre zwölf Söhne von Herzen gar lieb und ging zu ihren zwölf Söhnen und sprach zu ihnen..." und dann rät sie ihren Söhnen, in den Wald zu gehen.
Auch hier verstellen die buntgeklöppelten Bilder Wilhelm Grimms nur die Sicht auf die eigentliche familiäre Tragödie. Der bedrohliche Vater liebt weder Frau noch Kinder. Er ist nur von seiner Selbstdarstellung getrieben und hat mit seiner Rücksichtslosigkeit die Ehe zerrüttet. Das treibt die Söhne aus dem Haus.
Zutreffend ist allerdings die hervorgehobene Stellung des jüngsten Kindes. In zerrütteten Ehen muss nicht selten ausgerechnet das jüngste, das schwächste Kind, in absoluter Rollenüberforderung als Partnerersatz herhalten, weil es den geringsten emotionalen Widerstand bietet. Es ist also nicht unbedingt die große Liebe der Mutter, sondern ihre Bedürftigkeit, die sich am Jüngsten bedient.
Angesichts der Härte des Vaters weiß die Mutter sich keinen anderen Rat, als die Söhne vom Vater zu trennen. Hier schickt sie sie fort, um sie zu retten, aber die Trennung kann auch nur auf rein emotionaler Ebene erfolgen. Die Mutter stellt sich zwischen Vater und Söhne.
Gewöhnlich ist es die Aufgabe des Vaters, die Söhne in die Welt hinauszuführen und auf das Leben vorzubereiten. Er stattet sie mit seiner Erfahrung und seinem Wissen aus und gibt ihnen eine solide Plattform für ihren Lebensweg. Dieser destruktive Vater vertreibt seine Söhne aus dem Haus, ohne ihnen eine Richtung ins Leben zu weisen.
Die Mutter, die ihre Kinder liebt, versucht zunächst noch, Kontakt zu halten. Sie sollen aus sicherer Entfernung von einem hohen Baum zum Schloss schauen, und sie will eine Fahne aufstecken, wenn sie niedergekommen ist.
Bilder sozialen Elends drängen sich auf. Jugendliche, die auf den Straßen herumlungern, weil sie zuhause nicht klarkommen. Heranwachsende, die sich gegen ihren herrischen und willkürlichen Vater auflehnen, und eine hilflose Mutter, die sich kraftlos dazwischen wirft, um das Schlimmste zu vermeiden. Junge Menschen, die viel zu früh das elterliche Heim verlassen, weil sie es nicht mehr aushalten, und eine verzweifelte Mutter, die versucht, den Kontakt aufrecht zu halten und ihnen mühsam abgezweigtes Haushaltsgeld zusteckt.
Die zwölf Brüder verlassen also das Schloss und kampieren in sicherer Entfernung. Hat der Vaterkönig ihr Weggehen nicht bemerkt? Ist es ihm gleichgültig? Warum lässt er sie nicht verfolgen und aufspüren? Wie so oft in Märchen scheint das Schicksal der Alten nicht wichtig. Vom Vater wird außer seiner drohenden Ankündigung gar nichts berichtet und die Mutter verschwindet auch von der Bildfläche, nachdem sie die Signalfahne aufgesteckt hat. Offensichtlich geht es nur darum, die Familiensituation zu skizzieren, aus der die Kinder hervorgehen...