Felix von Bonin: Die Nixe im Teich
Band 6
Felix von Bonin
Die Nixe im Teich
Untreue
Die Sünden der Väter
  
96 Seiten
978-3-88755-236-7
EUR [D] 8,30

Herr Müller und die Nixe

Der Müller ist in Not. Es läuft nicht mehr so mit dem Wohlstand und in der Ehe wohl auch nicht. Weiß er nicht, dass seine Frau hochschwanger ist? Er geht zur Nixe und die macht ihn wieder reich.
Wie geht die Ehefrau mit der Affäre um? Wie der Müller? Und wie die Familie? Schuldzuweisungen, Unehrlichkeit und Angst sind die Folgen. Der Sohn des Müllers muss sich vom Teich fernhalten. Doch die Kette von Angst und Aggression lässt sich nicht durch Verbote lösen.
Der Sohn wächst heran, wird Jäger, macht sich die Hände blutig und steckt schließlich im Teich bei der Nixe. Er ist untergegangen, versumpft. Wie kann er gerettet werden?
Der Jäger hat eine Frau, die ihn von Herzen liebt. Sie entreißt ihren Mann dem Teich, doch beide müssen noch einen weiten Weg gehen, um zueinander zu finden.

Bei Müllers

Was ist nur los im Hause Müller? Sie haben doch "ein vergnügtes Leben" geführt, der Müller und seine Frau. Oder nicht? "Sie hatten Geld und Gut, und ihr Wohlstand nahm von Jahr zu Jahr noch zu." Da muss man doch vergnügt sein. Und dann, plötzlich, ist alles anders? "Unglück kommt über Nacht." Ist das wahr? Oder ist das nicht nur einer der neunmalklugen Sprüche, mit denen die ›gesunde Volkesstimme‹ scheinbar überzeugend erklärt, was in ganzer Wahrheit niemand wahr haben will?
"Unglück kommt über Nacht", ist die Weisheit der Blinden, die nicht sehen – wollen oder können –, wie der Pegel steigt und steigt und steigt, die sich aber mit schmerzverzerrtem Gesicht die Haare raufen und Asche auf ihr Haupt streuen, wenn das Fass dann endlich überläuft. Ach und o ja: "Unglück kommt über Nacht!"
Selten jedenfalls schwindet Reichtum über Nacht, vielmehr sickert er langsam dahin. Und es ist so sehr qualvoll, ihn schwinden zu sehen, ohne sein Verschwinden aufhalten zu können. Erst wächst das Vermögen von Jahr zu Jahr, das heißen wir Reichtum, und dann schwindet es von Jahr zu Jahr, das heißt Armut. Keine Katastrophe, die über Nacht kommt, steckt hinter diesen Tendenzen. Entweder ziehen wir an oder wir stoßen ab.
Warum zog das Ehepaar Müller vormals an (den Reichtum) und stößt jetzt ab? Etwas Grundlegendes muss sich verändert, muss die Lebenstendenz der Müllers verändert haben. Erst war da Wachstum, Reichtum, jetzt ist Rückgang, Armut. Was ist der Grund für diese Umkehr?
Schließlich gehört dem Müller kaum noch die Mühle, will meinen, er ist nicht mehr Herr im eigenen Hause, kein rechter Müller mehr. So wälzt er sich im Bett Nacht für Nacht, ist voller Kummer und findet keine Ruhe. Was also tut er? Er verlässt das Haus. Leuchtet das ein? Noch vor Tagesanbruch, also im Schutz der Dämmerung, verlässt er das Haus, geht über den Mühldamm an dem Teich entlang, dessen Wasser seine Mühle treibt, seinen Wohlstand begründet – oder auch nicht. Und genau an diesem existenziellen Punkt seines Daseins hört er "etwas rauschen. Er wendete sich um und erblickte ein schönes Weib, das sich langsam aus dem Wasser erhob."
Der Teich ist, anders als der See, ein künstliches Gewässer, angestaut für einen praktischen Zweck. Ein Mühlteich hatte die Aufgabe, den Zustrom des Wassers für den kontinuierlichen Antrieb des Mühlrads zu stauen und zu dosieren. Ein Weiher ist ein Fischteich, also ein belebter, von Leben erfüllter Teich. Es liegt ja nahe, den Mühlteich gleichzeitig als Fischteich zu nutzen.
Der Müller hört in seinem Weiher etwas rauschen, doch es sind nicht die munteren Forellen, die ihn wie springende Goldtaler reich machen, sondern es ist die nackte Nixe des Teichs, ein schlankes, schönes, lockendes Weib mit langen Haaren, die ihren feuchten, nackten Leib nur spärlich bedecken können.
Übertreiben wir die Betrachtung mit dieser Perspektive? Der Müller bewegt sich (im Märchen) gern in der Zone des Zwielichts.* Nichts ist im Märchen Zufall. Könnte dieser Mann auch Holzfäller, Bauer oder Schmied sein, wäre sein Beruf erst gar nicht erwähnt worden.

* vgl. "Rumpelstilzchen", Band 13 dieser Reihe und "Das Mädchen ohne Hände", Band 10

Wenn der Müller so "vergnügt" mit seiner Müllerin lebte, wieso geht er dann zum Weiher und trifft die Nixe? Pech gehabt? Nein. Wie wir gleich erfahren werden, ist die Müllerin hochschwanger und ihr Müllermann weiß nichts davon. Die Vergnüglichkeit und Nähe ist aus dieser Beziehung wohl schon länger verschwunden, der dämmrige Bummel am Weiher und das Rendezvous mit der Nixe weniger Zufall als Konsequenz. Was also ist los mit den Müllers?

Die Lebenslüge

Wasser ist der Urquell des Lebens. Es ist anpassungsfähig, formlos und verfügt über eine unfassbare Kraft, die sich so unterschiedlich zeigen kann wie in einer donnernden Sturzwelle oder als endlos zermürbendes Sickerwasser. Von Gewässern geht eine unbestimmte magische Anziehung aus. Der Wasserspiegel ist wie ein Schleier, der den Blick in eine andere Welt verhüllt. Das langsame und stille Reich unter Wasser scheint voller Geheimnisse, voller Gefahren, voll verborgener Schätze.
Wasser berührt unsere Seelentiefe. Das Meer, der See, der Tümpel sind stimmige Symbole für unser Bewusstsein. Wir schwimmen in der Nusschale unseres Alltagslebens auf der Oberfläche und werden von Wellen hin und her geschlagen, die von Regungen und Bewegungen tief unten erzeugt werden. Unter der halb spiegelnden, halb durchsichtigen Oberfläche unseres Alltagsbewusstseins schlummern unsere Geheimnisse, Ängste und Begabungen. Alles was sich im mehr oder weniger trüben Wasser unseres Teichs tummelt, ist Ausdruck unbewusster Tiefenschichten unserer Persönlichkeit: alte Stiefel, verrostete Schatztruhen, Nixen.
Der Wohlstand des Müllers ist direkt vom Wasser im Mühlteich abhängig. Fällt der Teich trocken, ist seine Mühle ohne Antrieb. Wenn dem Müller der Reichtum entschwunden ist, dann kann das also direkt mit den Vorgängen in seinem Teich in Verbindung gebracht werden. In dem Teich geht etwas vor, was den Fluss seines Reichtums versiegen lässt.
Es ist die Eigenart des Unbewussten, dass wir nur unklar und verschwommen sehen, was darin vorgeht und wie uns diese Vorgänge beeinflussen, wie durch die Oberfläche eines Sees betrachtet eben. Und was weiter unten und tief am Grund vorgeht, das bleibt uns ganz verborgen, wenn wir nicht in den See eintauchen. Wir tun das regelmäßig nachts im Traum, doch bevor die Botschaften von dort die Oberfläche erreichen, zerplatzen sie, und selbst wenn wir sie in das Wachbewusstsein retten können, bleiben die Bilder immer rätselhaft und vieldeutbar. Die Seele spricht kein Deutsch.
Sinnliche Eindrücke, große Freude, in der Regel jedoch eher tiefes Leid, können den Grund des Sees aufwühlen, und dann wird an die Oberfläche gespült, was zuvor im dämmrigen Schlick eingebettet schlummerte.
Den eigenen Reichtum unaufhaltsam schwinden zu sehen, wie Sand durch die Finger rinnend, ist ein solches Leid, das uns aufwühlen kann. Der Müller ist zweifellos aufgewühlt, denn er kann nicht schlafen und steht deshalb schon vor Tagesanbruch auf, geht "hinaus ins Freie und dachte, es sollte ihm leichter ums Herz werden". Und wie er so geht und sinnt, bricht es aus den Tiefen des Teichs hervor, und er schaut sich um, schaut endlich hin, was da (in ihm) ist. Eine Nixe.
Der Müller führte ein vergnügtes Leben mit seiner Frau. Und dann war es nicht mehr so vergnügt. Was ist geschehen? Was hat sich geändert? Was geht in ihm vor?
Wir wissen nicht, wie lange die Müllers schon ein Paar sind, doch all zu lange kann das nicht sein, denn sie bekommen ein Kind und es scheint das erste zu sein. Wir haben also Grund anzunehmen, dass sie ein recht junges Paar sind. Sie haben sich kennen gelernt, haben geheiratet und ein vergnügtes Leben als Müllersleute geführt. Vergnügt, aber auch glücklich?