Herr
Müller und die Nixe
Der
Müller ist in Not. Es läuft nicht mehr so mit dem
Wohlstand und in der Ehe wohl auch nicht. Weiß er nicht,
dass seine Frau hochschwanger ist? Er geht zur Nixe und die
macht ihn wieder reich.
Wie geht die Ehefrau mit der Affäre um? Wie der Müller?
Und wie die Familie? Schuldzuweisungen, Unehrlichkeit und
Angst sind die Folgen. Der Sohn des Müllers muss sich
vom Teich fernhalten. Doch die Kette von Angst und Aggression
lässt sich nicht durch Verbote lösen.
Der Sohn wächst heran, wird Jäger, macht sich die
Hände blutig und steckt schließlich im Teich bei
der Nixe. Er ist untergegangen, versumpft. Wie kann er gerettet
werden?
Der Jäger hat eine Frau, die ihn von Herzen liebt. Sie
entreißt ihren Mann dem Teich, doch beide müssen
noch einen weiten Weg gehen, um zueinander zu finden.
Bei Müllers
Was ist nur los im Hause Müller?
Sie haben doch "ein vergnügtes Leben" geführt,
der Müller und seine Frau. Oder nicht? "Sie hatten
Geld und Gut, und ihr Wohlstand nahm von Jahr zu Jahr noch
zu." Da muss man doch vergnügt sein. Und dann, plötzlich,
ist alles anders? "Unglück kommt über Nacht."
Ist das wahr? Oder ist das nicht nur einer der neunmalklugen
Sprüche, mit denen die gesunde Volkesstimme
scheinbar überzeugend erklärt, was in ganzer Wahrheit
niemand wahr haben will?
"Unglück kommt über Nacht", ist die Weisheit
der Blinden, die nicht sehen wollen oder können
, wie der Pegel steigt und steigt und steigt, die sich
aber mit schmerzverzerrtem Gesicht die Haare raufen und Asche
auf ihr Haupt streuen, wenn das Fass dann endlich überläuft.
Ach und o ja: "Unglück kommt über Nacht!"
Selten jedenfalls schwindet Reichtum über Nacht, vielmehr
sickert er langsam dahin. Und es ist so sehr qualvoll, ihn
schwinden zu sehen, ohne sein Verschwinden aufhalten zu können.
Erst wächst das Vermögen von Jahr zu Jahr, das heißen
wir Reichtum, und dann schwindet es von Jahr zu Jahr, das
heißt Armut. Keine Katastrophe, die über Nacht
kommt, steckt hinter diesen Tendenzen. Entweder ziehen wir
an oder wir stoßen ab.
Warum zog das Ehepaar Müller vormals an (den Reichtum)
und stößt jetzt ab? Etwas Grundlegendes muss sich
verändert, muss die Lebenstendenz der Müllers verändert
haben. Erst war da Wachstum, Reichtum, jetzt ist Rückgang,
Armut. Was ist der Grund für diese Umkehr?
Schließlich gehört dem Müller kaum noch die
Mühle, will meinen, er ist nicht mehr Herr im eigenen
Hause, kein rechter Müller mehr. So wälzt er sich
im Bett Nacht für Nacht, ist voller Kummer und findet
keine Ruhe. Was also tut er? Er verlässt das Haus. Leuchtet
das ein? Noch vor Tagesanbruch, also im Schutz der Dämmerung,
verlässt er das Haus, geht über den Mühldamm
an dem Teich entlang, dessen Wasser seine Mühle treibt,
seinen Wohlstand begründet oder auch nicht. Und
genau an diesem existenziellen Punkt seines Daseins hört
er "etwas rauschen. Er wendete sich um und erblickte
ein schönes Weib, das sich langsam aus dem Wasser erhob."
Der Teich ist, anders als der See, ein künstliches Gewässer,
angestaut für einen praktischen Zweck. Ein Mühlteich
hatte die Aufgabe, den Zustrom des Wassers für den kontinuierlichen
Antrieb des Mühlrads zu stauen und zu dosieren. Ein Weiher
ist ein Fischteich, also ein belebter, von Leben erfüllter
Teich. Es liegt ja nahe, den Mühlteich gleichzeitig als
Fischteich zu nutzen.
Der Müller hört in seinem Weiher etwas rauschen,
doch es sind nicht die munteren Forellen, die ihn wie springende
Goldtaler reich machen, sondern es ist die nackte Nixe des
Teichs, ein schlankes, schönes, lockendes Weib mit langen
Haaren, die ihren feuchten, nackten Leib nur spärlich
bedecken können.
Übertreiben wir die Betrachtung mit dieser Perspektive?
Der Müller bewegt sich (im Märchen) gern in der
Zone des Zwielichts.* Nichts ist im Märchen Zufall. Könnte
dieser Mann auch Holzfäller, Bauer oder Schmied sein,
wäre sein Beruf erst gar nicht erwähnt worden.
* vgl. "Rumpelstilzchen",
Band 13 dieser Reihe und "Das Mädchen ohne Hände",
Band 10
Wenn der Müller so "vergnügt"
mit seiner Müllerin lebte, wieso geht er dann zum Weiher
und trifft die Nixe? Pech gehabt? Nein. Wie wir gleich erfahren
werden, ist die Müllerin hochschwanger und ihr Müllermann
weiß nichts davon. Die Vergnüglichkeit und Nähe
ist aus dieser Beziehung wohl schon länger verschwunden,
der dämmrige Bummel am Weiher und das Rendezvous mit
der Nixe weniger Zufall als Konsequenz. Was also ist los mit
den Müllers?
Die Lebenslüge
Wasser ist der Urquell des Lebens.
Es ist anpassungsfähig, formlos und verfügt über
eine unfassbare Kraft, die sich so unterschiedlich zeigen
kann wie in einer donnernden Sturzwelle oder als endlos zermürbendes
Sickerwasser. Von Gewässern geht eine unbestimmte magische
Anziehung aus. Der Wasserspiegel ist wie ein Schleier, der
den Blick in eine andere Welt verhüllt. Das langsame
und stille Reich unter Wasser scheint voller Geheimnisse,
voller Gefahren, voll verborgener Schätze.
Wasser berührt unsere Seelentiefe. Das Meer, der See,
der Tümpel sind stimmige Symbole für unser Bewusstsein.
Wir schwimmen in der Nusschale unseres Alltagslebens auf der
Oberfläche und werden von Wellen hin und her geschlagen,
die von Regungen und Bewegungen tief unten erzeugt werden.
Unter der halb spiegelnden, halb durchsichtigen Oberfläche
unseres Alltagsbewusstseins schlummern unsere Geheimnisse,
Ängste und Begabungen. Alles was sich im mehr oder weniger
trüben Wasser unseres Teichs tummelt, ist Ausdruck unbewusster
Tiefenschichten unserer Persönlichkeit: alte Stiefel,
verrostete Schatztruhen, Nixen.
Der Wohlstand des Müllers ist direkt vom Wasser im Mühlteich
abhängig. Fällt der Teich trocken, ist seine Mühle
ohne Antrieb. Wenn dem Müller der Reichtum entschwunden
ist, dann kann das also direkt mit den Vorgängen in seinem
Teich in Verbindung gebracht werden. In dem Teich geht etwas
vor, was den Fluss seines Reichtums versiegen lässt.
Es ist die Eigenart des Unbewussten, dass wir nur unklar und
verschwommen sehen, was darin vorgeht und wie uns diese Vorgänge
beeinflussen, wie durch die Oberfläche eines Sees betrachtet
eben. Und was weiter unten und tief am Grund vorgeht, das
bleibt uns ganz verborgen, wenn wir nicht in den See eintauchen.
Wir tun das regelmäßig nachts im Traum, doch bevor
die Botschaften von dort die Oberfläche erreichen, zerplatzen
sie, und selbst wenn wir sie in das Wachbewusstsein retten
können, bleiben die Bilder immer rätselhaft und
vieldeutbar. Die Seele spricht kein Deutsch.
Sinnliche Eindrücke, große Freude, in der Regel
jedoch eher tiefes Leid, können den Grund des Sees aufwühlen,
und dann wird an die Oberfläche gespült, was zuvor
im dämmrigen Schlick eingebettet schlummerte.
Den eigenen Reichtum unaufhaltsam schwinden zu sehen, wie
Sand durch die Finger rinnend, ist ein solches Leid, das uns
aufwühlen kann. Der Müller ist zweifellos aufgewühlt,
denn er kann nicht schlafen und steht deshalb schon vor Tagesanbruch
auf, geht "hinaus ins Freie und dachte, es sollte ihm
leichter ums Herz werden". Und wie er so geht und sinnt,
bricht es aus den Tiefen des Teichs hervor, und er schaut
sich um, schaut endlich hin, was da (in ihm) ist. Eine Nixe.
Der Müller führte ein vergnügtes Leben mit
seiner Frau. Und dann war es nicht mehr so vergnügt.
Was ist geschehen? Was hat sich geändert? Was geht in
ihm vor?
Wir wissen nicht, wie lange die Müllers schon ein Paar
sind, doch all zu lange kann das nicht sein, denn sie bekommen
ein Kind und es scheint das erste zu sein. Wir haben also
Grund anzunehmen, dass sie ein recht junges Paar sind. Sie
haben sich kennen gelernt, haben geheiratet und ein vergnügtes
Leben als Müllersleute geführt. Vergnügt, aber
auch glücklich?
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