Felix von Bonin: Brüderchen und Schwesterchen
Band 8
Felix von Bonin
Brüderchen und Schwesterchen
Geschwisterliebe
Verstrickungen lösen
 
96 Seiten
978-3-88755-238-1

EUR [D] 8,30

Die Mutter eine Hexe, das ist nichts Neues

Aber was ist das für eine sonderbare Beziehung zwischen Brüderchen und Schwesterchen? Die ältere Schwester gerät durch den Fortfall der Mutter in eine doppelbödige Rolle gegenüber ihrem Bruder. Dadurch wird ihre Entwicklung völlig blockiert. Die Dynamik der Ereignisse drängt Schwesterchen auf den Weg der Einweihung. Die junge Mutter durchläuft ein Wiedergeburtsritual und kann sich danach von der falschen Rollenbindung lösen.

Unstillbarer Durst

Die erste Schlinge ist immer zart und fast unsichtbar. Das Märchen spricht es nicht aus, aber stellen wir uns Schwesterchen nicht älter als Brüderchen vor? Brüderchen beklagt die Situation. Brüderchen will in die »weite Welt«, also ins Leben hinausgehen, doch: »miteinander«.
Schwesterchen erscheint gereifter, und tatsächlich entwickeln sich Mädchen ja etwas früher als Jungen, laufen in der Entwicklung ein, zwei Jahre voraus. So zeigt sich Schwesterchen denn auch überlegen, besonnener und zurückgenommener; während Brüderchen bald drängend, unbesonnen, ja unbeherrscht auftritt.
Doch zunächst ist da die große frühpubertäre Enttäuschung und die erste Todessehnsucht. Diese Sehnsucht richtet sich auf die Wiederherstellung einer Ureinheit, die der Tod zu versprechen scheint, die er auch tatsächlich gibt, wenn wir ihn über das Funktionsende des Organismus hinaus verstehen. »Sie gingen zusammen fort«, so erzählt die Urfassung, »und kamen in einen großen Wald«. Diesen Wald sollen wir uns nicht als Staatsforst mit beschilderten Wanderwegen vorstellen, sondern als Ur-Wald voller Verlockungen und Gefahren, der die Wirrnis des Lebens symbolisiert.
In dieses Leben finden sich die Kinder geworfen, und »da waren sie so traurig und so müde, daß sie sich in einen hohlen Baum setzten und da Hungers sterben wollten.« Das entspricht der Dramatik kindlichen Erlebens. Für das Unverständnis Wilhelm Grimms und der ›guten Mütter‹ seiner Zeit spricht es, dass in der späteren Fassung dieser Todeswunsch schnöde getilgt ist: »daß sie sich in einen hohlen Baum setzten und einschliefen« – ach, wie niedlich, die schlummernden Kinder!
Nein, wer diesen Text so nonchalant verändert, versteht nun wirklich überhaupt nicht, was kindliche Seelen bewegt. Da geht es nämlich immer um Leben und immer um Tod – weil das Kind noch gar keine Vorstellung vom Tod als Verlust hat. Es begegnet ihm unbekümmert, so unbekümmert, dass die Todessehnsucht vom Abend am nächsten Morgen, wenn die Sonne wieder scheint, schon vergessen ist.
Das Kind lebt in der Dramatik des Augenblicks. Wie sonst können wir uns erklären, dass Kinder so erschreckende Angst vor unserer erwachsenen Macht haben? Wo wir selbst doch um unsere Ohnmacht wissen. Warum sind wir so ohnmächtig? Weil wir die Magie des Augenblicks nicht mehr leben.
Brüderchen – und wohl auch Schwesterchen – lebt noch die Wahrheit, dass es in jedem Moment um alles geht. Die schwarze Mutter will sie schinden, treibt sie aus dem Haus, hin in den tödlichen Lebenswald, wo sie Schutz im Schoß der Natur suchen, dem hohlen Baum, der auch Sarg sein und Tod verheißen kann.
Doch am nächsten Morgen wachen sie auf und der Tod hat sie verschmäht. »Die Sonne [war] schon lange aufgestiegen und schien heiß in den hohlen Baum hinein« und Brüderchen entdeckt »durstig« das Leben. Und so sagen wir auch: Lebensdurst. Die schwarze Mutter haben sie hinter sich gelassen, jetzt will Brüderchen aus den Quellen des Lebenswaldes trinken, sich nähren, sich stärken.
Auch hier zeigt sich Schwesterchen reifer. Sie nimmt den Todeswunsch schon ernst: »Was hilft das, antwortete das Schwesterchen, warum willst du trinken, da wir doch Hungers sterben wollen.« Die Selbsterkenntnis und -erfahrung, die sich mit der Pubertät einstellt, wird begleitet von der Einsicht in die eigene Endlichkeit, die sich gewöhnlich in Todessehnsucht artikuliert. Auch diese Wahrheit verdrängt Wilhelm Grimm bis zur Letztfassung. Ach, ihr besorgten Mütter, wie wenig psychische Wahrheit vertragt ihr nur? Wart ihr denn nicht selbst einst Kinder.
Brüderchen mag allein nicht in den verwirrenden Lebenswald gehen. Die Bindung an die Mutter gibt er notgedrungen auf, doch er bindet sich sogleich an Schwesterchen. Nur mit ihr zusammen und, wie sich zeigen wird, unter ihrem Schutz will er ins Leben treten. Allerdings scheint Schwesterchen passiv, fast lethargisch, Brüderchen schleift sie mit sich. Schwesterchen scheint keine Erwartung zu haben, sie hat keinen »Durst«, für sie ist der Tod schon etwas Reales. Doch Brüderchen dürstet es nach dem Leben »und weil es das Schwesterchen immer fest mit der Hand hielt, mußte es« mit ihm vorangehen, obwohl sie anscheinend lieber vermittels Hungertod in die große Einheit zurückgetreten wäre. Welcher Pubertierende fühlt sich da nicht angesprochen und verstanden?
Doch dem Brüderchen steht bei seinem Schritt in die Autonomie die Mutter im Wege. Wenn sie denn wirklich eine Hexe ist, warum ist sie nicht froh, die (lästigen) Kinder los zu sein? Wenn die Kindern nun einmal fort sind, warum macht sie sich die Mühe, ihre Kinder auch noch vergiften zu wollen?
Es ist perverser Ausdruck egoistischer Liebe, dass sie vernichten will, was sie für sich nicht gewinnen kann. Beispiele dafür finden wir um uns herum ohne Mühe, wenn wir nur schauen.
Die Mutterhexe hat bemerkt, dass ihr die Kinder aus dem Haus geschlichen sind. Nun schleicht sie hinterher, um dem Brüderchen den Durst auf ein Leben ohne sie durch vergiftete Brunnen zu vergellen. Brüderchen muss ja (vom Leben) trinken, dass kann auch eine Mutter nicht verhindern, doch sie vergiftet diesen Trunk durch ihre Affenliebe und blockiert damit die Entwicklung ihres Sohnes. Die egoistische Liebe der Mutter stürzt den Sohn in eine Regression, die hier in der Tierverwandlung ihr Bild findet. Deshalb ist sie eine stiefe Mutter, eine Hexe – ganz ähnlich wie bei »Hänsel und Gretel«. Und dort wie hier klingt der ödipale Konflikt an, wenn der Knabe von der Mutter gebunden wird und das Mädchen nur Mitläufer und Befreier ist.
Mütter, die ihre Kinder an sich binden, nicht freigeben können, bewältigen einen wesentlichen Entwicklungsschritt in ihrem eigenen Leben nicht. Entlässt eine Frau ihr Kind ins Leben, erkennt sie damit an, dass wir auf dieser Erde nichts wirklich besitzen können, schon gar nicht andere Menschen, auch die ›eigenen‹ Kinder nicht; dass wir Menschen nur gewinnen, wenn wir sie freilassen. Unser irdischer Besitz ist nicht unser Eigentum, sondern natürliche Leihgabe. Wir müssen alles, was wir im Leben unser eigen nennen, am Ausgang, in der Todesstunde, wieder abgeben. Eine Reife, die sich auf die brillante Formel »Haben oder Sein« verdichten lässt, wird uns abgefordert. Wenige Menschen erlangen sie.

Geschwisterliebe

Warum ein Reh? Rehe sind friedliche Vegetarier und wie alle Fluchttiere schlank und grazil. Schädling sind sie nur der modernen Forstwirtschaft. Anmutig erscheinen sie uns, und wir müssen keine Angst vor ihnen haben. Im Gegenteil waren Rehe schon in der Steinzeit Jagdwild für den Menschen. Deshalb hat sich manche Mythe darum gewunden und mancher archaische Gott trägt ein Hirschgeweih.
Der Anblick von Rehen berührt unser Herz. Sie scheinen so anmutig und verletzlich. Rehaugen sind Metapher für Unschuld und Treue. Weil sie immer flüchtig sind, stehen Rehe auch für die Verlockung und für eine Sehnsucht nach etwas, das man noch gar nicht benennen kann. Der Märchenheld folgt ihnen und verirrt sich dabei im Zauberwald. Rehe sterben aber auch an seiner statt, damit ihre Eingeweide mordlüsternen Eltern als Wahrzeichen für den Tod der verhassten Kinder dienen können.
Reh (und Hirsch) sind Tiere der Hulda (Frau Holle, Hexe, Große Mutter) und symbolisieren nicht nur die Verlockung durch das Unbekannte, sondern auch die unscharfe Sehnsucht nach dem Anderen, die stark gefärbt ist von der erotischen Ursehnsucht nach Nähe und Vereinigung.
Brüderchen verwandelt sich in ein Reh, weil er die Symbiose mit der Mutter zwar biologisch bedingt aufgeben muss, doch zur Autonomie nicht bereit ist. Als Rehchen zeigt er sich schutzbedürftig, was ihm hilft, die bequeme Symbiose in einer anderen Beziehung fortzusetzen. Die ödipale Beziehung zur sexuell unerreichbaren Mutter wird dabei durch die Beziehung zu einer dritten Person ersetzt, die notwendig eine erotische Komponente hat. Deshalb ist das Strumpfband ein subtiles Symbol für die delikate Beziehung von Brüderchen und Schwesterchen.
Die seelische Abnabelung von der Mutter ist ein für beide Seiten fordernder Prozess. Unser Brüderchen findet sich aber in der besonderen Situation, eine ältere Schwester zu haben. Diese Schwester ist eingeweiht, Jungfrau, also bereit und auf dem Sprung, die Nachfolge der Mutter anzutreten, die damit zur alten Frau wird. Das heißt aber nicht, dass sie an Mutters statt endlos für Brüderchen sorgen kann und soll, um ihm den Schritt in die Autonomie zu ersparen.
Genau diese Erfahrung muss Schwesterchen und muss auch Brüderchen noch machen. Davon erzählt dieses Märchen.
In der psychologischen Literatur werden unter dem Stichwort Geschwister vornehmlich Hass und Rivalität abgearbeitet. Tatsächlich stehen Geschwister in Rivalität um die Liebe der Eltern und sie stimulieren ihre Entwicklung wechselseitig durch den Vergleich. Dass es dabei zu Spannungen kommt, ist verständlich.
Geschwisterliebe erscheint wenn überhaupt unter dem Aspekt Inzest. Erst in jüngerer Zeit ist die Perspektive hier erweitert worden. Sohni zum Beispiel beschreibt die Geschwisterbeziehung als psychosexuelles Übungsfeld, auf dem als Alternative zu den bislang vertikalen Beziehungen der Übergang zu horizontalen eingeübt wird, also neben der Eltern-Kind- die Mann-Frau-Beziehung.
Wenn dabei der weibliche Teil älter und reifer ist, drängt sich die Stellvertretung der Mutter auf. Das hat mit Inzest zunächst nichts zu tun, aber es beschreibt das wechselseitige Surrogat, das beide Beteiligten an der Entwicklung hindert. Schwesterchen hat an Brüderchen das Kind, das sie bemuttern kann; und Brüderchen hat an Schwesterchen die Ersatzmutter, die es ihm abnimmt, selbständig zu werden. Erweitern wir »Schwesterchen« zur Lebensgefährtin, offenbart sich dem wachen Beobachter des Alltags, dass hier eine verbreitete Disposition thematisiert wird.
Schwesterchen, von den Nachstellungen der Hexe verschont, fühlt sich für das verwunschene Brüderchen verantwortlich. Diese Situation entsteht besonders für eine ältere Schwestern regelmäßig, wenn die Mutter ob durch Tod, Krankheit, Sucht oder Ähnliches ausfällt.
Sie sucht »Moos und Laub .. und machte ihm ein weiches Lager«, führt es hin, wo »zartes Gras war und sammelte das allerschönste, das fraß es ihm aus der Hand.« Rehkälbchenbrüderchen ist vergnügt. Und »wenn Schwesterchen müde war, legte es seinen Kopf auf den Rücken des Rehkälbchens, das war sein Kissen, und so schlief es ein«, nicht ohne dass es in der späteren Fassung »sein Gebet gesagt hatte«.
Dieses eheähnliche Zusammenleben der Geschwister ist voller Zärtlichkeit und Idylle, »und hätte das Brüderchen nur seine menschliche Gestalt gehabt, das wäre ein herrliches Leben gewesen.« Doch dies ist eben keine Mann-Frau-Beziehung. Brüderchen ist ›verwunschen‹, in seiner Reifung gehemmt, und Schwesterchen träumt sich mit der Sorge für den jüngeren Bruder in eine Rolle, die sie ausfüllen möchte, die sie aber so nicht erfüllen kann.