Die Mutter eine Hexe,
das ist nichts Neues
Aber was ist das für
eine sonderbare Beziehung zwischen Brüderchen und Schwesterchen?
Die ältere Schwester gerät durch den Fortfall der
Mutter in eine doppelbödige Rolle gegenüber ihrem
Bruder. Dadurch wird ihre Entwicklung völlig blockiert.
Die Dynamik der Ereignisse drängt Schwesterchen auf den
Weg der Einweihung. Die junge Mutter durchläuft ein Wiedergeburtsritual
und kann sich danach von der falschen Rollenbindung lösen.
Unstillbarer Durst
Die erste Schlinge ist immer zart und
fast unsichtbar. Das Märchen spricht es nicht aus, aber
stellen wir uns Schwesterchen nicht älter als Brüderchen
vor? Brüderchen beklagt die Situation. Brüderchen
will in die »weite Welt«, also ins Leben hinausgehen,
doch: »miteinander«.
Schwesterchen erscheint gereifter, und tatsächlich entwickeln
sich Mädchen ja etwas früher als Jungen, laufen
in der Entwicklung ein, zwei Jahre voraus. So zeigt sich Schwesterchen
denn auch überlegen, besonnener und zurückgenommener;
während Brüderchen bald drängend, unbesonnen,
ja unbeherrscht auftritt.
Doch zunächst ist da die große frühpubertäre
Enttäuschung und die erste Todessehnsucht. Diese Sehnsucht
richtet sich auf die Wiederherstellung einer Ureinheit, die
der Tod zu versprechen scheint, die er auch tatsächlich
gibt, wenn wir ihn über das Funktionsende des Organismus
hinaus verstehen. »Sie gingen zusammen fort«,
so erzählt die Urfassung, »und kamen in einen großen
Wald«. Diesen Wald sollen wir uns nicht als Staatsforst
mit beschilderten Wanderwegen vorstellen, sondern als Ur-Wald
voller Verlockungen und Gefahren, der die Wirrnis des Lebens
symbolisiert.
In dieses Leben finden sich die Kinder geworfen, und »da
waren sie so traurig und so müde, daß sie sich
in einen hohlen Baum setzten und da Hungers sterben wollten.«
Das entspricht der Dramatik kindlichen Erlebens. Für
das Unverständnis Wilhelm Grimms und der guten
Mütter seiner Zeit spricht es, dass in der späteren
Fassung dieser Todeswunsch schnöde getilgt ist: »daß
sie sich in einen hohlen Baum setzten und einschliefen«
ach, wie niedlich, die schlummernden Kinder!
Nein, wer diesen Text so nonchalant verändert, versteht
nun wirklich überhaupt nicht, was kindliche Seelen bewegt.
Da geht es nämlich immer um Leben und immer um Tod
weil das Kind noch gar keine Vorstellung vom Tod als Verlust
hat. Es begegnet ihm unbekümmert, so unbekümmert,
dass die Todessehnsucht vom Abend am nächsten Morgen,
wenn die Sonne wieder scheint, schon vergessen ist.
Das Kind lebt in der Dramatik des Augenblicks. Wie sonst können
wir uns erklären, dass Kinder so erschreckende Angst
vor unserer erwachsenen Macht haben? Wo wir selbst doch um
unsere Ohnmacht wissen. Warum sind wir so ohnmächtig?
Weil wir die Magie des Augenblicks nicht mehr leben.
Brüderchen und wohl auch Schwesterchen
lebt noch die Wahrheit, dass es in jedem Moment um alles geht.
Die schwarze Mutter will sie schinden, treibt sie aus dem
Haus, hin in den tödlichen Lebenswald, wo sie Schutz
im Schoß der Natur suchen, dem hohlen Baum, der auch
Sarg sein und Tod verheißen kann.
Doch am nächsten Morgen wachen sie auf und der Tod hat
sie verschmäht. »Die Sonne [war] schon lange aufgestiegen
und schien heiß in den hohlen Baum hinein« und
Brüderchen entdeckt »durstig« das Leben.
Und so sagen wir auch: Lebensdurst. Die schwarze Mutter haben
sie hinter sich gelassen, jetzt will Brüderchen aus den
Quellen des Lebenswaldes trinken, sich nähren, sich stärken.
Auch hier zeigt sich Schwesterchen reifer. Sie nimmt den Todeswunsch
schon ernst: »Was hilft das, antwortete das Schwesterchen,
warum willst du trinken, da wir doch Hungers sterben wollen.«
Die Selbsterkenntnis und -erfahrung, die sich mit der Pubertät
einstellt, wird begleitet von der Einsicht in die eigene Endlichkeit,
die sich gewöhnlich in Todessehnsucht artikuliert. Auch
diese Wahrheit verdrängt Wilhelm Grimm bis zur Letztfassung.
Ach, ihr besorgten Mütter, wie wenig psychische Wahrheit
vertragt ihr nur? Wart ihr denn nicht selbst einst Kinder.
Brüderchen mag allein nicht in den verwirrenden Lebenswald
gehen. Die Bindung an die Mutter gibt er notgedrungen auf,
doch er bindet sich sogleich an Schwesterchen. Nur mit ihr
zusammen und, wie sich zeigen wird, unter ihrem Schutz will
er ins Leben treten. Allerdings scheint Schwesterchen passiv,
fast lethargisch, Brüderchen schleift sie mit sich. Schwesterchen
scheint keine Erwartung zu haben, sie hat keinen »Durst«,
für sie ist der Tod schon etwas Reales. Doch Brüderchen
dürstet es nach dem Leben »und weil es das Schwesterchen
immer fest mit der Hand hielt, mußte es« mit ihm
vorangehen, obwohl sie anscheinend lieber vermittels Hungertod
in die große Einheit zurückgetreten wäre.
Welcher Pubertierende fühlt sich da nicht angesprochen
und verstanden?
Doch dem Brüderchen steht bei seinem Schritt in die Autonomie
die Mutter im Wege. Wenn sie denn wirklich eine Hexe ist,
warum ist sie nicht froh, die (lästigen) Kinder los zu
sein? Wenn die Kindern nun einmal fort sind, warum macht sie
sich die Mühe, ihre Kinder auch noch vergiften zu wollen?
Es ist perverser Ausdruck egoistischer Liebe, dass sie vernichten
will, was sie für sich nicht gewinnen kann. Beispiele
dafür finden wir um uns herum ohne Mühe, wenn wir
nur schauen.
Die Mutterhexe hat bemerkt, dass ihr die Kinder aus dem Haus
geschlichen sind. Nun schleicht sie hinterher, um dem Brüderchen
den Durst auf ein Leben ohne sie durch vergiftete Brunnen
zu vergellen. Brüderchen muss ja (vom Leben) trinken,
dass kann auch eine Mutter nicht verhindern, doch sie vergiftet
diesen Trunk durch ihre Affenliebe und blockiert damit die
Entwicklung ihres Sohnes. Die egoistische Liebe der Mutter
stürzt den Sohn in eine Regression, die hier in der Tierverwandlung
ihr Bild findet. Deshalb ist sie eine stiefe Mutter, eine
Hexe ganz ähnlich wie bei »Hänsel und
Gretel«. Und dort wie hier klingt der ödipale Konflikt
an, wenn der Knabe von der Mutter gebunden wird und das Mädchen
nur Mitläufer und Befreier ist.
Mütter, die ihre Kinder an sich binden, nicht freigeben
können, bewältigen einen wesentlichen Entwicklungsschritt
in ihrem eigenen Leben nicht. Entlässt eine Frau ihr
Kind ins Leben, erkennt sie damit an, dass wir auf dieser
Erde nichts wirklich besitzen können, schon gar nicht
andere Menschen, auch die eigenen Kinder nicht;
dass wir Menschen nur gewinnen, wenn wir sie freilassen. Unser
irdischer Besitz ist nicht unser Eigentum, sondern natürliche
Leihgabe. Wir müssen alles, was wir im Leben unser eigen
nennen, am Ausgang, in der Todesstunde, wieder abgeben. Eine
Reife, die sich auf die brillante Formel »Haben oder
Sein« verdichten lässt, wird uns abgefordert. Wenige
Menschen erlangen sie.
Geschwisterliebe
Warum ein Reh? Rehe sind friedliche
Vegetarier und wie alle Fluchttiere schlank und grazil. Schädling
sind sie nur der modernen Forstwirtschaft. Anmutig erscheinen
sie uns, und wir müssen keine Angst vor ihnen haben.
Im Gegenteil waren Rehe schon in der Steinzeit Jagdwild für
den Menschen. Deshalb hat sich manche Mythe darum gewunden
und mancher archaische Gott trägt ein Hirschgeweih.
Der Anblick von Rehen berührt unser Herz. Sie scheinen
so anmutig und verletzlich. Rehaugen sind Metapher für
Unschuld und Treue. Weil sie immer flüchtig sind, stehen
Rehe auch für die Verlockung und für eine Sehnsucht
nach etwas, das man noch gar nicht benennen kann. Der Märchenheld
folgt ihnen und verirrt sich dabei im Zauberwald. Rehe sterben
aber auch an seiner statt, damit ihre Eingeweide mordlüsternen
Eltern als Wahrzeichen für den Tod der verhassten Kinder
dienen können.
Reh (und Hirsch) sind Tiere der Hulda (Frau Holle, Hexe, Große
Mutter) und symbolisieren nicht nur die Verlockung durch das
Unbekannte, sondern auch die unscharfe Sehnsucht nach dem
Anderen, die stark gefärbt ist von der erotischen Ursehnsucht
nach Nähe und Vereinigung.
Brüderchen verwandelt sich in ein Reh, weil er die Symbiose
mit der Mutter zwar biologisch bedingt aufgeben muss, doch
zur Autonomie nicht bereit ist. Als Rehchen zeigt er sich
schutzbedürftig, was ihm hilft, die bequeme Symbiose
in einer anderen Beziehung fortzusetzen. Die ödipale
Beziehung zur sexuell unerreichbaren Mutter wird dabei durch
die Beziehung zu einer dritten Person ersetzt, die notwendig
eine erotische Komponente hat. Deshalb ist das Strumpfband
ein subtiles Symbol für die delikate Beziehung von Brüderchen
und Schwesterchen.
Die seelische Abnabelung von der Mutter ist ein für beide
Seiten fordernder Prozess. Unser Brüderchen findet sich
aber in der besonderen Situation, eine ältere Schwester
zu haben. Diese Schwester ist eingeweiht, Jungfrau, also bereit
und auf dem Sprung, die Nachfolge der Mutter anzutreten, die
damit zur alten Frau wird. Das heißt aber nicht, dass
sie an Mutters statt endlos für Brüderchen sorgen
kann und soll, um ihm den Schritt in die Autonomie zu ersparen.
Genau diese Erfahrung muss Schwesterchen und muss auch Brüderchen
noch machen. Davon erzählt dieses Märchen.
In der psychologischen Literatur werden unter dem Stichwort
Geschwister vornehmlich Hass und Rivalität abgearbeitet.
Tatsächlich stehen Geschwister in Rivalität um die
Liebe der Eltern und sie stimulieren ihre Entwicklung wechselseitig
durch den Vergleich. Dass es dabei zu Spannungen kommt, ist
verständlich.
Geschwisterliebe erscheint wenn überhaupt unter dem Aspekt
Inzest. Erst in jüngerer Zeit ist die Perspektive hier
erweitert worden. Sohni zum Beispiel beschreibt die Geschwisterbeziehung
als psychosexuelles Übungsfeld, auf dem als Alternative
zu den bislang vertikalen Beziehungen der Übergang zu
horizontalen eingeübt wird, also neben der Eltern-Kind-
die Mann-Frau-Beziehung.
Wenn dabei der weibliche Teil älter und reifer ist, drängt
sich die Stellvertretung der Mutter auf. Das hat mit Inzest
zunächst nichts zu tun, aber es beschreibt das wechselseitige
Surrogat, das beide Beteiligten an der Entwicklung hindert.
Schwesterchen hat an Brüderchen das Kind, das sie bemuttern
kann; und Brüderchen hat an Schwesterchen die Ersatzmutter,
die es ihm abnimmt, selbständig zu werden. Erweitern
wir »Schwesterchen« zur Lebensgefährtin,
offenbart sich dem wachen Beobachter des Alltags, dass hier
eine verbreitete Disposition thematisiert wird.
Schwesterchen, von den Nachstellungen der Hexe verschont,
fühlt sich für das verwunschene Brüderchen
verantwortlich. Diese Situation entsteht besonders für
eine ältere Schwestern regelmäßig, wenn die
Mutter ob durch Tod, Krankheit, Sucht oder Ähnliches
ausfällt.
Sie sucht »Moos und Laub .. und machte ihm ein weiches
Lager«, führt es hin, wo »zartes Gras war
und sammelte das allerschönste, das fraß es ihm
aus der Hand.« Rehkälbchenbrüderchen ist vergnügt.
Und »wenn Schwesterchen müde war, legte es seinen
Kopf auf den Rücken des Rehkälbchens, das war sein
Kissen, und so schlief es ein«, nicht ohne dass es in
der späteren Fassung »sein Gebet gesagt hatte«.
Dieses eheähnliche Zusammenleben der Geschwister ist
voller Zärtlichkeit und Idylle, »und hätte
das Brüderchen nur seine menschliche Gestalt gehabt,
das wäre ein herrliches Leben gewesen.« Doch dies
ist eben keine Mann-Frau-Beziehung. Brüderchen ist verwunschen,
in seiner Reifung gehemmt, und Schwesterchen träumt sich
mit der Sorge für den jüngeren Bruder in eine Rolle,
die sie ausfüllen möchte, die sie aber so nicht
erfüllen kann.
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