Ist
die dreizehnte weise Frau wirklich böse?
Kann
sich der König wirklich nur zwölf goldene Teller
leisten? Und wenn er so sehr um das Wohl seiner kleinen Prinzessin
besorgt ist, wieso geht er ausgerechnet an ihrem Schicksalstag
aus? Was bedeutet die alte Frau? Der Stich? Die Dornenhecke?
Was der hundertjährige Schlaf?
Eine süße Liebesschmonzette ist »Dornröschen«
jedenfalls nicht. Eher schon sexuelle, nein: erotische Aufklärung
der ganz besonderes feinen Art. Vor allem die Herren Prinzen
sollten dieses Mädchen-Märchen besonders aufmerksam
lesen, bevor sie ich in die Dornenhecke stürzen...
Erweckung des Weiblichen
Die Königin sitzt im Bade und
ein Frosch weissagt ihr, dass sie ein Kind bekommen wird.
Ihr Baby wird nach der Geburt von zwölf weisen Frauen
des Reichs mit den höchsten Tugenden begabt, aber eine
dreizehnte, die vom König Ausgeschlossene, wirft einen
Spruch über das unschuldige Kindlein. Der König
will das Schicksal abwenden, doch er vermag es natürlich
nicht, und zur vorbestimmten Stunde verfällt Dornröschen
in Schlaf und mit ihr das ganze Reich. Hundert Jahre. Bis
der Kuss des Auserwählten sie erweckt. Eine Liebesgeschichte?
Dornröschen ist ein ganz besonderes Märchen. Auf
der Beliebtheitsskala steht es weit oben. Warum nur? Was fasziniert
uns an dieser schlichten Geschichte, in der hauptsächlich
geschlafen und wieder aufgewacht wird? Welche subbewussten
Schichten rührt es in uns an? ...
Die Macht der Dreizehn
Dieses Märchen erzählt, dass
im Reich des Königs dreizehn weise Frauen leben und dass
es nicht möglich ist, auch nur eine davon auszuschließen,
so sehr der weltlich herrschende König das auch versuchen
mag. Was verbirgt sich hinter dieser Symbolik?
Die weise Frau ist, wäre dem Weiblichen nicht wesentlich
alles Hierarchische fremd, Statthalterin der Großen
Mutter. Sie lebt das Atmen der Natur, empfängt und gebiert,
weiß aber auch um Vergehen und Sterben. Ihre Zeit ist
die Nacht; ihr Wesen die Seele; ihr Rhythmus der Mond.
Ursprünglich ist Dreizehn die Zahl der Vollkommenheit.
Der weibliche Zyklus des Mondes ist der einzige direkt aus
der Erfahrung zählbare Zeitrhythmus. 28 Tage hat ein
Monat, ein Mondzyklus. Und dreizehn mal 28 Tage vollenden
das Mondjahr.
Doch dieses matriarchale Mondjahr hat einen praktischen Schönheitsfehler,
denn es zählt nur 364 Tage. Jahr für Jahr verschob
sich deshalb die Zählung im Verhältnis zu den von
der (männlichen) Sonne diktierten Jahreszeiten. Man hätte
diesen Mangel zwar ebenso gut mit einem Schalttag ausgleichen
können, wie den Mangel des männlichen 365-Tage-Jahres,
doch Julius Caesar, der Diktator des modernen Kalenders, nutzte
die Gelegenheit, um einen weiteren Baustein in die Ablösung
des Matriarchats einzufügen, indem er die unpraktische
Dreizehn durch die heilige Zwölf ersetzte.
Man bedenke, dass im alten Rom der Mann, der Pater familiae,
zuhause nichts zu melden hatte, denn dort herrschte noch immer
uneingeschränkt die Mater familiae, die Frau. Der Mann
durfte sich allein im Draußen austoben. Doch diese Chance
hat er weidlich genutzt, wie wir sehen.
Die Dreizehn ist also älter als die Zwölf. Dreizehn
ist die Zahl der Vollkommenheit (des Jahres) und damit zunächst
eine Glückszahl. Sie ist eng mit der Drei verbunden,
denn die Einheit und die Dreiheit verbinden sich in ihr. Ihre
Quersumme ist die irdische Vier. Die Dreizehn gliedert sich
in drei Gruppen: elf (die Verdoppelung der Eins, der Einheit)
Gestalten für das Gute, eine für das Böse und
die letzte für das Sinngebende. Genau in dieser Konstellation
finden wir es in "Dornröschen" wieder. Elf
weise Frauen schütten ihre Begabungen über das Baby
aus, eine verflucht es und die Letzte gibt dem Ganzen Sinn.
Das Dreizehnte ist somit das Unbewegliche, die Nahtstelle
im Kreislauf von Gut und Böse. Und genau um diese Nahtstelle
geht es ja in diesem Märchen. Die Dreizehn ist Mittelpunkt
und Ganzheit der Zwölf. Jesus hatte zwölf Jünger,
war also selbst der Dreizehnte. Der Adept durchläuft
zwölf Grade der Wandlung, gerne durch zwölf wechselnde
Gewänder verbildlicht, und das dreizehnte Gewand markiert
die höchste, endgültige Stufe, das mystische Ziel,
die Er- und Auflösung. Dabei ist die dreizehnte Stufe
ohne die vorhergehenden zwölf nicht denkbar, begreift
sie in sich ein, ist ihre zusammenfassende Erhöhung.
Die Dreizehn ist die Zwölf als ein Ganzes.
Mit dem rational diktierten Übergang vom Matriarchat
zum Patriarchat wurden viele alte Symbole umdefiniert. Die
Dreizehn gehört dazu. Ursprünglich eine Zahl der
Vollendung, eine Glückszahl, wurde sie zur bösen
Zahl, zum Unglücksboten. Ebenso die Große Mutter,
die hegende Frau (Hexe), die zum gefährlichen bedrohlichen
Weib wurde, das mit dem Teufel, der Personifizierung des Bösen,
dem Erzfeind im Bunde steht. Es ist deshalb insoweit stimmig,
dass die Frauenbewegung die Hexe wiederentdeckt hat. Weil
die erfolgten Umdeutungen aber Spuren im gesellschaftlichen
Bewusstsein hinterlassen haben, schien es nötig, den
Begriff "weiße Hexe" zu schaffen, womit indirekt
eingeräumt wird, dass es auch schwarze gegeben
hat oder gibt. Nun ja. würde die Frauenbewegung eine
symbolische Zahl suchen, dann müsste es die Dreizehn
sein
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