Felix von Bonin: Dornröschen
Band 3
Felix von Bonin
Dornröschen
Erweckung des Weiblichen
Die Macht der Dreizehn
 
96 Seiten
978-3-88755-233-6

EUR [D] 8,30

Ist die dreizehnte weise Frau wirklich böse?

Kann sich der König wirklich nur zwölf goldene Teller leisten? Und wenn er so sehr um das Wohl seiner kleinen Prinzessin besorgt ist, wieso geht er ausgerechnet an ihrem Schicksalstag aus? Was bedeutet die alte Frau? Der Stich? Die Dornenhecke? Was der hundertjährige Schlaf?
Eine süße Liebesschmonzette ist »Dornröschen« jedenfalls nicht. Eher schon sexuelle, nein: erotische Aufklärung der ganz besonderes feinen Art. Vor allem die Herren Prinzen sollten dieses Mädchen-Märchen besonders aufmerksam lesen, bevor sie ich in die Dornenhecke stürzen...

Erweckung des Weiblichen

Die Königin sitzt im Bade und ein Frosch weissagt ihr, dass sie ein Kind bekommen wird. Ihr Baby wird nach der Geburt von zwölf weisen Frauen des Reichs mit den höchsten Tugenden begabt, aber eine dreizehnte, die vom König Ausgeschlossene, wirft einen Spruch über das unschuldige Kindlein. Der König will das Schicksal abwenden, doch er vermag es natürlich nicht, und zur vorbestimmten Stunde verfällt Dornröschen in Schlaf und mit ihr das ganze Reich. Hundert Jahre. Bis der Kuss des Auserwählten sie erweckt. Eine Liebesgeschichte?
Dornröschen ist ein ganz besonderes Märchen. Auf der Beliebtheitsskala steht es weit oben. Warum nur? Was fasziniert uns an dieser schlichten Geschichte, in der hauptsächlich geschlafen und wieder aufgewacht wird? Welche subbewussten Schichten rührt es in uns an? ...

Die Macht der Dreizehn

Dieses Märchen erzählt, dass im Reich des Königs dreizehn weise Frauen leben und dass es nicht möglich ist, auch nur eine davon auszuschließen, so sehr der weltlich herrschende König das auch versuchen mag. Was verbirgt sich hinter dieser Symbolik?
Die weise Frau ist, wäre dem Weiblichen nicht wesentlich alles Hierarchische fremd, Statthalterin der Großen Mutter. Sie lebt das Atmen der Natur, empfängt und gebiert, weiß aber auch um Vergehen und Sterben. Ihre Zeit ist die Nacht; ihr Wesen die Seele; ihr Rhythmus der Mond.
Ursprünglich ist Dreizehn die Zahl der Vollkommenheit. Der weibliche Zyklus des Mondes ist der einzige direkt aus der Erfahrung zählbare Zeitrhythmus. 28 Tage hat ein Monat, ein Mondzyklus. Und dreizehn mal 28 Tage vollenden das Mondjahr.
Doch dieses matriarchale Mondjahr hat einen praktischen Schönheitsfehler, denn es zählt nur 364 Tage. Jahr für Jahr verschob sich deshalb die Zählung im Verhältnis zu den von der (männlichen) Sonne diktierten Jahreszeiten. Man hätte diesen Mangel zwar ebenso gut mit einem Schalttag ausgleichen können, wie den Mangel des männlichen 365-Tage-Jahres, doch Julius Caesar, der Diktator des modernen Kalenders, nutzte die Gelegenheit, um einen weiteren Baustein in die Ablösung des Matriarchats einzufügen, indem er die ›unpraktische‹ Dreizehn durch die ›heilige‹ Zwölf ersetzte. Man bedenke, dass im alten Rom der Mann, der Pater familiae, zuhause nichts zu melden hatte, denn dort herrschte noch immer uneingeschränkt die Mater familiae, die Frau. Der Mann durfte sich allein im Draußen austoben. Doch diese Chance hat er weidlich genutzt, wie wir sehen.
Die Dreizehn ist also älter als die Zwölf. Dreizehn ist die Zahl der Vollkommenheit (des Jahres) und damit zunächst eine Glückszahl. Sie ist eng mit der Drei verbunden, denn die Einheit und die Dreiheit verbinden sich in ihr. Ihre Quersumme ist die irdische Vier. Die Dreizehn gliedert sich in drei Gruppen: elf (die Verdoppelung der Eins, der Einheit) Gestalten für das Gute, eine für das Böse und die letzte für das Sinngebende. Genau in dieser Konstellation finden wir es in "Dornröschen" wieder. Elf weise Frauen schütten ihre Begabungen über das Baby aus, eine verflucht es und die Letzte gibt dem Ganzen Sinn.
Das Dreizehnte ist somit das Unbewegliche, die Nahtstelle im Kreislauf von Gut und Böse. Und genau um diese Nahtstelle geht es ja in diesem Märchen. Die Dreizehn ist Mittelpunkt und Ganzheit der Zwölf. Jesus hatte zwölf Jünger, war also selbst der Dreizehnte. Der Adept durchläuft zwölf Grade der Wandlung, gerne durch zwölf wechselnde Gewänder verbildlicht, und das dreizehnte Gewand markiert die höchste, endgültige Stufe, das mystische Ziel, die Er- und Auflösung. Dabei ist die dreizehnte Stufe ohne die vorhergehenden zwölf nicht denkbar, begreift sie in sich ein, ist ihre zusammenfassende Erhöhung. Die Dreizehn ist die Zwölf als ein Ganzes.
Mit dem rational diktierten Übergang vom Matriarchat zum Patriarchat wurden viele alte Symbole umdefiniert. Die Dreizehn gehört dazu. Ursprünglich eine Zahl der Vollendung, eine Glückszahl, wurde sie zur bösen Zahl, zum Unglücksboten. Ebenso die Große Mutter, die hegende Frau (Hexe), die zum gefährlichen bedrohlichen Weib wurde, das mit dem Teufel, der Personifizierung des Bösen, dem Erzfeind im Bunde steht. Es ist deshalb insoweit stimmig, dass die Frauenbewegung die Hexe wiederentdeckt hat. Weil die erfolgten Umdeutungen aber Spuren im gesellschaftlichen Bewusstsein hinterlassen haben, schien es nötig, den Begriff "weiße Hexe" zu schaffen, womit indirekt eingeräumt wird, dass es auch ›schwarze‹ gegeben hat oder gibt. Nun ja. würde die Frauenbewegung eine symbolische Zahl suchen, dann müsste es die Dreizehn sein