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Genogramm
und Familienstellen
Familie ist längst ein problembeladener
Begriff. Gesellschaftlich wird über Familienpolitik gestritten,
und im Privaten haben Viele vorsätzlich oder notgedrungen
kaum noch familiäre Bindungen. Andererseits wissen wir,
nicht zuletzt durch das Familienstellen, welche Bedeutung
die familiären Wurzeln für unser alltägliches
Wohlbefinden haben. Jeder von uns lebt mit inneren Bildern
von sich und der Welt, die wesentlich in der Kindheit, also
durch das familiäre Umfeld geprägt wurden. Dieses
innere Bild der Familie als Quelle heilender Kraft zu nutzen,
ist das Ziel von Familienstellen und Genogramm-Arbeit.
Unsere Seele ist in dieser Welt an den Körper gebunden.
Deshalb bleiben wir auch zeit unseres Lebens mit unserer Herkunftsfamilie
und ihren in inneren Bildern gespeicherten Lebenserfahrungen
verbunden. Wer diese Tatsache bewusst oder unbewusst außer
acht lässt, bleibt verstrickt und läuft Gefahr,
krank zu werden.
Neurobiologische Forschungen, wie zum Beispiel von Joachim
Bauer, beschreiben eindrucksvoll, wie sich der Mensch innere
Bilder von sich selbst und seiner Umwelt macht. Diese Bilder
unterliegen der Wahrnehmung und sind stets mit Gefühlen
verknüpft. Und diese Gefühle beeinflussen unser
Leben auf Schritt und Tritt. Sie etablieren sich als Einstellungen
und Überzeugungen, sogenannte Glaubenssätze, die
unsere Entscheidungen unbewusst beeinflussen und so nicht
selten unser Handeln Ergebnisse zeitigen lassen, die wir an
sich gar nicht beabsichtigt haben. Außerdem sind Gefühle
als psychosomatische Ursache Ausgangspunkt von seelischen
und körperlichen Erkrankungen. Die inneren Bilder sind
deshalb der goldene Schlüssel zu jeglicher Form von Wohlergehen
und Erfolg.
Familien, Paarbeziehungen zwischen Menschen, die als solche
gleich, als Mann und Frau aber ebenso unterschiedlich sind,
bilden den Boden für die Lebensgeschichte des Einzelnen.
Diese Familiengeschichte wird uns genauso in die Wiege gelegt,
wie die Gene unser biologisches Erscheinungsbild bestimmen.
Im Heranwachsen entwickelt der Mensch aber auch einen freien
Willen. Er hat somit im Rahmen seiner schicksalsbedingten
Möglichkeiten die Freiheit, zu entscheiden und eine Wahl
zu treffen. Deshalb kann er an den inneren Bildern aktiv arbeiten,
in der Zeit rückwärts wandern und Abschied nehmend,
vorwärts schreitend planen, insbesondere aber auch in
der Gegenwart innehalten und an der Schöpferkraft teilhaben.
In seiner Lebensgestaltung folgt der Mensch nach Brazelton
und Greenspan sieben Grundbedürfnissen, nämlich
beständigen, liebevollen Beziehungen; körperlicher
Unversehrtheit; Sicherheit und Regulation; Erfahrungen, die
auf individuelle Unterschiede zugeschnitten sind; Grenzen
und Strukturen; stabilen und unterstützenden Gemeinschaften
und kultureller Kontinuität und gesicherter Zukunft.
Auf diesem Hintergrund lassen sich Störungen im Leben
des Einzelnen verstehen. Aktuelle Konflikte können von
solchen Lebensthemen unterscheiden werden, die in der Persönlichkeitsentwicklung
begründet sind und immer wieder und oft behindernd in
die Alltagsgestaltung einwirken.
Während Familien- und Systemaufstellungen eine mehr emotionale,
intuitive und phänomenologische Herangehensweise in einer
Gruppensituation bieten, eröffnet die Arbeit mit dem
Genogramm einen eher rationalen Zugang im Dialog zwischen
Klient und Therapeut. Beide Verfahren ergänzen sich sehr
sinnvoll, können aber auch jeweils für sich sehr
nützliche Bilder hervorbringen, die verinnerlicht zu
einer Quelle heilender Kraft werden.
Das Genogramm ist ein leicht handhabbares, konstruktives Werkzeug.
Jeder kann sich relativ leicht selbst sein Genogramm erstellen.
Es zeigt das innere Bild der Familie in graphischer Form nach
Art eines Stammbaums, und wir können es nutzen, um uns
für eine Weile bleibend zugehörig zu fühlen
und die Bedeutung leiblicher Bindungen anzuerkennen. Jedes
Familienmitglied findet im Genogramm der Ordnung der Zeit
folgend seinen ureigensten Platz. Besondere Lebensereignisse
werden durch Eintragungen sichtbar gemacht. Wenn sich so ein
vollständiges Bild aller Lebenden und Verstorbenen ergibt,
weil alle Mitglieder dazugehören dürfen, können
wir die Zusammenhänge besser verstehen und deshalb von
unserem eigenen Platz aus kraftvoll leben. Daraus erwachsen
uns die größten Chancen für eine gesunde Lebensentwicklung.
Nach dem Salutogenese-Modell von Aaron Antonovsky gehören
Kohärenz- und Permanenzgefühl sowie Verstehbarkeit,
Bedeutsamkeit und Handhabbarkeit dazu.
Die wissenschaftlich begründete Familienbiographik geht
auf Viktor von Weizsäcker zurück und wurde von Rainer
und Monika Adamaszek wiederentdeckt und ausformuliert. Dabei
stehen drei Fragen im Mittelpunkt: Warum wird gerade dieser
Mensch krank? Warum erkrankt ein Mensch gerade jetzt? Warum
erkrankt ein Mensch gerade so?
Durch die Familienbiographik und das Genogramm lassen sich
mit dem Verstand leicht nachvollziehbare Antworten auf diese
Fragen finden. Wir orientieren uns im Leben vor allem auch
an Vorbildern. Die Erkenntnisse der Familienbiographik weisen
aber darauf hin, dass gerade das nicht gelebte Leben nachgeborene
Menschen aufgrund der leiblichen Bindung dazu zwingt, im inneren
Bild der Familie entstandene Lücken durch Stellvertretung
zu schließen.
Praktisch bedeutet das, eine Person übernimmt die Lebensaufgabe
einer anderen, früheren. Das geschieht aber unter ganz
anderen Rahmenbedingungen und im nachhinein, also insoweit
zu spät. Deshalb muss die Person scheitern, und dieses
Scheitern mündet in Krankheit. Die Krankheit ermöglicht
dem leidenden Menschen, unerlaubte, also abgewehrte Gefühle
und oft kindliche Bedürfnisse zu stillen, ungelöste
Themen in abgewandelter Form zu vergegenwärtigen und
verleugnete Bindungen zu würdigen, zugleich aber lässt
sie neue Lücken entstehen, wenn der Betroffene durch
diese Stellvertreterrolle seinen eigenen Platz im Leben nicht
voll einnehmen kann.
Zur Ergänzung des Genogramms ist eine Tabelle hilfreich,
in der Familienmitglieder und sie betreffende einschneidende
Ereignisse zusammengestellt werden. Dadurch treten Parallelen
deutlicher zutage, die immer wieder verblüffen, wenn
beispielsweise die Tochter genau in dem Alter eine Eierstockerkrankung
erleidet, in dem die Mutter abgetrieben hat. Solche Parallelen
sind nicht etwa der seltene Zufall, sondern die praktische
Regel. Sie helfen dem Betroffenen, Einsicht in die Hintergründe
seiner Erkrankung im Bild der Familie zu erkennen und damit
seine eigenen inneren Bilder zu ordnen und zu heilen.
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