Dr. Thomas Heucke: Genogramm und Familienstellen
Genogramm und Familienstellen

Familie ist längst ein problembeladener Begriff. Gesellschaftlich wird über Familienpolitik gestritten, und im Privaten haben Viele vorsätzlich oder notgedrungen kaum noch familiäre Bindungen. Andererseits wissen wir, nicht zuletzt durch das Familienstellen, welche Bedeutung die familiären Wurzeln für unser alltägliches Wohlbefinden haben. Jeder von uns lebt mit inneren Bildern von sich und der Welt, die wesentlich in der Kindheit, also durch das familiäre Umfeld geprägt wurden. Dieses innere Bild der Familie als Quelle heilender Kraft zu nutzen, ist das Ziel von Familienstellen und Genogramm-Arbeit.

Unsere Seele ist in dieser Welt an den Körper gebunden. Deshalb bleiben wir auch zeit unseres Lebens mit unserer Herkunftsfamilie und ihren in inneren Bildern gespeicherten Lebenserfahrungen verbunden. Wer diese Tatsache bewusst oder unbewusst außer acht lässt, bleibt verstrickt und läuft Gefahr, krank zu werden.

Neurobiologische Forschungen, wie zum Beispiel von Joachim Bauer, beschreiben eindrucksvoll, wie sich der Mensch innere Bilder von sich selbst und seiner Umwelt macht. Diese Bilder unterliegen der Wahrnehmung und sind stets mit Gefühlen verknüpft. Und diese Gefühle beeinflussen unser Leben auf Schritt und Tritt. Sie etablieren sich als Einstellungen und Überzeugungen, sogenannte Glaubenssätze, die unsere Entscheidungen unbewusst beeinflussen und so nicht selten unser Handeln Ergebnisse zeitigen lassen, die wir an sich gar nicht beabsichtigt haben. Außerdem sind Gefühle als psychosomatische Ursache Ausgangspunkt von seelischen und körperlichen Erkrankungen. Die inneren Bilder sind deshalb der goldene Schlüssel zu jeglicher Form von Wohlergehen und Erfolg.

Familien, Paarbeziehungen zwischen Menschen, die als solche gleich, als Mann und Frau aber ebenso unterschiedlich sind, bilden den Boden für die Lebensgeschichte des Einzelnen. Diese Familiengeschichte wird uns genauso in die Wiege gelegt, wie die Gene unser biologisches Erscheinungsbild bestimmen. Im Heranwachsen entwickelt der Mensch aber auch einen freien Willen. Er hat somit im Rahmen seiner schicksalsbedingten Möglichkeiten die Freiheit, zu entscheiden und eine Wahl zu treffen. Deshalb kann er an den inneren Bildern aktiv arbeiten, in der Zeit rückwärts wandern und Abschied nehmend, vorwärts schreitend planen, insbesondere aber auch in der Gegenwart innehalten und an der Schöpferkraft teilhaben.

In seiner Lebensgestaltung folgt der Mensch nach Brazelton und Greenspan sieben Grundbedürfnissen, nämlich beständigen, liebevollen Beziehungen; körperlicher Unversehrtheit; Sicherheit und Regulation; Erfahrungen, die auf individuelle Unterschiede zugeschnitten sind; Grenzen und Strukturen; stabilen und unterstützenden Gemeinschaften und kultureller Kontinuität und gesicherter Zukunft. Auf diesem Hintergrund lassen sich Störungen im Leben des Einzelnen verstehen. Aktuelle Konflikte können von solchen Lebensthemen unterscheiden werden, die in der Persönlichkeitsentwicklung begründet sind und immer wieder und oft behindernd in die Alltagsgestaltung einwirken.

Während Familien- und Systemaufstellungen eine mehr emotionale, intuitive und phänomenologische Herangehensweise in einer Gruppensituation bieten, eröffnet die Arbeit mit dem Genogramm einen eher rationalen Zugang im Dialog zwischen Klient und Therapeut. Beide Verfahren ergänzen sich sehr sinnvoll, können aber auch jeweils für sich sehr nützliche Bilder hervorbringen, die verinnerlicht zu einer Quelle heilender Kraft werden.

Das Genogramm ist ein leicht handhabbares, konstruktives Werkzeug. Jeder kann sich relativ leicht selbst sein Genogramm erstellen. Es zeigt das innere Bild der Familie in graphischer Form nach Art eines Stammbaums, und wir können es nutzen, um uns für eine Weile bleibend zugehörig zu fühlen und die Bedeutung leiblicher Bindungen anzuerkennen. Jedes Familienmitglied findet im Genogramm der Ordnung der Zeit folgend seinen ureigensten Platz. Besondere Lebensereignisse werden durch Eintragungen sichtbar gemacht. Wenn sich so ein vollständiges Bild aller Lebenden und Verstorbenen ergibt, weil alle Mitglieder dazugehören dürfen, können wir die Zusammenhänge besser verstehen und deshalb von unserem eigenen Platz aus kraftvoll leben. Daraus erwachsen uns die größten Chancen für eine gesunde Lebensentwicklung. Nach dem Salutogenese-Modell von Aaron Antonovsky gehören Kohärenz- und Permanenzgefühl sowie Verstehbarkeit, Bedeutsamkeit und Handhabbarkeit dazu.

Die wissenschaftlich begründete Familienbiographik geht auf Viktor von Weizsäcker zurück und wurde von Rainer und Monika Adamaszek wiederentdeckt und ausformuliert. Dabei stehen drei Fragen im Mittelpunkt: Warum wird gerade dieser Mensch krank? Warum erkrankt ein Mensch gerade jetzt? Warum erkrankt ein Mensch gerade so?

Durch die Familienbiographik und das Genogramm lassen sich mit dem Verstand leicht nachvollziehbare Antworten auf diese Fragen finden. Wir orientieren uns im Leben vor allem auch an Vorbildern. Die Erkenntnisse der Familienbiographik weisen aber darauf hin, dass gerade das nicht gelebte Leben nachgeborene Menschen aufgrund der leiblichen Bindung dazu zwingt, im inneren Bild der Familie entstandene Lücken durch Stellvertretung zu schließen.

Praktisch bedeutet das, eine Person übernimmt die Lebensaufgabe einer anderen, früheren. Das geschieht aber unter ganz anderen Rahmenbedingungen und im nachhinein, also insoweit zu spät. Deshalb muss die Person scheitern, und dieses Scheitern mündet in Krankheit. Die Krankheit ermöglicht dem leidenden Menschen, unerlaubte, also abgewehrte Gefühle und oft kindliche Bedürfnisse zu stillen, ungelöste Themen in abgewandelter Form zu vergegenwärtigen und verleugnete Bindungen zu würdigen, zugleich aber lässt sie neue Lücken entstehen, wenn der Betroffene durch diese Stellvertreterrolle seinen eigenen Platz im Leben nicht voll einnehmen kann.

Zur Ergänzung des Genogramms ist eine Tabelle hilfreich, in der Familienmitglieder und sie betreffende einschneidende Ereignisse zusammengestellt werden. Dadurch treten Parallelen deutlicher zutage, die immer wieder verblüffen, wenn beispielsweise die Tochter genau in dem Alter eine Eierstockerkrankung erleidet, in dem die Mutter abgetrieben hat. Solche Parallelen sind nicht etwa der seltene Zufall, sondern die praktische Regel. Sie helfen dem Betroffenen, Einsicht in die Hintergründe seiner Erkrankung im Bild der Familie zu erkennen und damit seine eigenen inneren Bilder zu ordnen und zu heilen.